In Verfahren konstruieren die Parteien gemeinsam eine
Verfahrensgeschichte. Diese Verfahrensgeschichte ist die individuelle Darstellung ihres eigenen Konfliktes. Die Verfahrensgeschichte bildet aber selbstverständlich nicht das wirkliche Geschehen ab. Es ist vielmehr eine abstrahierte, in der Komplexität stark reduzierte Darstellung. Bei der Schilderung ihres Konfliktes haben sich die Parteien nämlich an strenge
Vorgaben zu halten. Durch das Prozessrecht werden Themen
und Personen ausgegrenzt oder es werden Fakten für
irrelevant erklärt. Im Verfahren übernehmen die Parteien Rollen. Sie sind nicht mehr «der Ehemann» oder «die Geschäftspartnerin», sondern nur noch Kläger oder Beklagte. Auch Richter haben eine Rolle. Sie werden nicht als Privatpersonen, sondern nur in ihrer spezifischen Aufgabe als Richter wahrgenommen. Die Teilnehmer am Gerichtsverfahren akzeptieren unbewusst die Rolle, die ihnen durch die Situation vorgegeben wird. Indem sich die Parteien auf das Verfahren einlassen und die ihnen zugeschriebenen Rollen annehmen, leisten sie «unbezahlte, zeremonielle Arbeit». Durch die Verstrickung in ein Rollenspiel lässt sich die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren. So tragen die Parteien ihren Konflikt in der erlaubten Form des Prozesses aus. Dabei wird der Interessenkonflikt, um den es eigentlich geht, in einen Konflikt über Tat- und Rechtsfragen umstrukturiert. Der Konflikt wird dadurch in seiner Komplexität reduziert und auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt.